Wie einmal alles begann.


Friedrich Wilhelm Cöbler stand wohlgenährt, die Schürze umgebunden und eine Zigarre im Mund, in der Eingangstüre seiner „Weetschaff“ und sinnierte in den frühen, klaren Januarmorgen. Seine Wirtschaft, das war der „Verdötschte Jivvel“ im Haus Gereonswall 59.

Hier lebten er und seine Frau Anna sowie die acht Töchter und der Sohn. In der Schankstube hörte man das Rücken von Tischen und Stühlen. Der Boden wurde geschrubbt und anschließend wieder mit feinem Sand bestreut, damit der ölgetränkte Holzfußboden schneller zu reinigen war. Die Kupferkessel in der Küche, der Stolz der Wirtin Anna, wurden auf Hochglanz gebracht. Alles musste proper sein. Zwei der acht Mädels arbeiteten im Hause. Die anderen waren, ebenso wie der Sohn Friedrich Wilhelm, in der Lehre. Willi wollte unbedingt Bäcker werden, aber nach einem Jahr bekam er eine Mehlallergie und musste sein Wunschhandwerk aufgeben. Daher bestimmte der Patron: „Dä Jung wed Polsterer un Dekorateur!“ Somit wandte sich Friedrich Wilhelm dem Tapezierer Handwerk zu und arbeitete im Augenblick im Gürzenich. Der wurde gerade renoviert.

Ja, ja, die Kinder. Cöblers Gedanken eilten zurück zu der Zeit, als die Kinder noch alle klein waren. Hinten am Gereonswall sah man die neue Eisenbahnbrücke mit dem Bahndamm. Ja, damals fuhr der Zug noch über die Straße, und alles war voller Qualm, wenn er vorbei kam. Wenn er an die Kinder dachte, kam ein Lächeln in sein Gesicht. Sonntags, wenn alle sich fein machten, trug auch der Kleinste, der Willi, ein Kleidchen wie seine Schwestern, und wenn er sich dann beim Spielen bückte, kam bei dem kleinen Pummel hinten das „Föttchen“ zum Vorschein. „Fott“ wurde er auch darum gerufen. Ein Spitzname, der ihn sein ganzes Leben begleiten sollte.

Langsam wurden auch die übrigen Hausbewohner munter. Der Hilfsgefangenenaufseher Eberhard auf dem ersten Stock riss laut das Fenster auf und gähnte noch vernehmlich. Hatte wohl am Abend vorher einen zuviel zur Brust genommen. Schreiner Fischenich vom dritten Stock war sicher schon zur Arbeit gegangen. Ein brummiges „Morgen“ murrte der Hilfsbremser aus dem Hinterbau, Küppers Albert, als er vorbei ging. Da war die alte Christine von oben schon freundlicher. Friedrich Wilhelm antwortete geistesabwesend und blickte ihr nach. Mit seinen Gedanken war er noch bei seiner Kinderschar.

Leises Klingeln aus der Ferne riss ihn aus seinen Gedanken. Dr. Kruchten, der Kaplan von St. Ursula, kam aus der Ritterstraße um die Ecke. Ihm voraus ein Messdiener, der Heidkamps Hans. „Mostert“ wurde er auch gerufen, denn seine Eltern hatten im Entepol, in der Eintrachtstraße, wie die Straße jetzt hieß, ein kleines Lebensmittelgeschäft. Weil die neben selbsteingelegten Gurken und Öllich auch den Mostert, den berühmten, echt kölschen Mostert selbst herstellten, wurde der Hans „Mostert“ gerufen. Jedenfalls schwenkte der Messdiener Mostert das Weihrauchfass unentwegt. Auf den Trottoirs knieten die Leute, denn der Kaplan trug das Allerheiligste vor sich her. Er nickte einen kurzen Gruß zu dem Wirt hinüber und verschwand dann in dem schmalen Haus neben der Hamburger Straße. „Bestimmt geht der zur Berta und bringt der die Kommunion“, dachte Friedrich Wilhelm Cöbler. Die arme alte Dame war schon lange krank und konnte nicht mehr auf die Straße.

Ja, der Kaplan kümmerte sich um alles. Sogar einen Jünglingsverein hatte er im Ursulaviertel ins Leben gerufen, und im „Verdötschte Jivvel“ hatten die Burschen ihren Stammtisch. Ein netter Haufen war das,. immer war was los. Theater spielen, eine eigene Theatergruppe hatten die Burschen, oder Wandern, ect. Nur wenn die ihre Köpfe zusammensteckten, musste man auf der Hut sein. Dann wurde bestimmt wieder etwas ausgeheckt. Blödsinn machen war bei denen oberstes Gebot.

Im Nachbarhaus rumpelte und krachte es wie jeden Morgen. Die Lisa wurde aus dem Stall transportiert. Lisa war ein belgisches Kaltblut, so ein richtig dickes Pääd, mit Stummelschwanz und langer Mähne. Die Schumachers nebenan hatten nämlich ein Fuhrgeschäft. Die Schlagkaar stand immer vorm Haus auf der Straße. Nur die Lisa musste mit viel Mühe morgens und abends durch den Hausflur auf den Hof in den Stall gedäut weede. Bis die mit dem dicken Bauch und ihrem Hinterteil durch die Haustüre war, e schön Jedöns. Einer zog am Geschirr und der andere dät vun hinge däue, bis dass das Tier durch den Gang war. Ganz ausgefranst waren schon der Türrahmen und der Hausflur. Un dä Buch vun däm Pääd hat dä Flur rund geschürt. Et wor immer en Attraktion för de janze Stroß.

Langsam wandte sich der Wirt seiner Arbeit zu. Die allmorgendliche Inspektion auf der Straße war beendet. Eines der Mädchen wienerte noch das Klavier hinten links in der Ecke. Welche Wirtschaft hatte schon ein Klavier zu bieten? Die Cöblers hatten eins, und die Mädchen konnten alle darauf spielen. Es war sein ganzer Stolz.

Heute Abend traf sich wieder der Jünglingsverein. Es war Stammtisch-Dienstag. Dann würde sicher auch wieder musiziert. Doch das Hauptthema war der Karneval. Die Jungen wollten unbedingt auch mitmachen und nicht nur Theater spielen. Stadtsoldaten von Annodazumal, Blaue und Rote Funken als Karnevalsvereine, das alles gab es schon lange. Vor zwei Jahren hatte man die Prinzengarde gegründet. Jetzt wollten die Fetzen auch was auf die Beine stellen. Watt die künne, künne mer och. Es war Abend. Langsam füllte sich der Stammtisch im „Verdötschte Jivvel“. Cöblers Willi, die „Fott“, war der erste, der am großen runden Tisch Platz nahm. Nach und nach kamen auch die anderen. Heidkamps Hans, der Mostert, Willi Birgel, Hein Jouy, Darscheids Köbes, der Ädäppels Baron, Sommerhäuser Johannes und all die anderen auch. Das Thema heute war ja auch zu wichtig. Fastelovend stund vör der Döör.

Im Jahre 1908 standen viele Themen für ein Zugmotto zur Auswahl. Da war die Eingemeindung von Kalk und Vingst in den Verband der Stadt Köln. Dä Kronprinz met singem Jefolge op da Ringstroß oder die Poller Milchmädchen, welche im Stadtbild und vor allem auf dem Ursulamarkt eine beliebte Erscheinung waren.

Das große, stadtkölnische Ereignis war jedoch die „Sprengung des Deutzer Korsetts“, die Sprengung der alten Festungsanlagen in Deutz, um Platz zu schaffen für die Ausdehnung der Stadt und die schnell wachsende Bevölkerung. Für die Ursulaner ein besonderes Thema, weil erst einige Jahre zuvor die Sprengung der alten Stadtmauer östlich der Gereonsmühle am Gereonswall Platz geschaffen hatte für Wohnhäuser, welche nun im Bau oder zum Teil auch schon fertig und bewohnt waren. Ja, auch die Bevölkerung in der Pfarre St. Ursula wuchs und brauchte neuen Wohnraum.

Erst ging es bei der Diskussion des Jünglingsvereins um die Frage, wie sich die Jungen am Karneval beteiligen sollen. Eventuell als Harlekins oder vielleicht als die neumodischen Radfahrer, welche mehr und mehr das Stadtbild beleben? So schwirrte es durch den Raum. Mehr Fragen als Antworten. Endlich, Willi Cöbler, die „Fott“, hatte seinen Vater gerufen und um Rat gefragt. Dat es doch alles Blödsinn, wat ehr do wollt. Ehr sid doch alles Arbeitslück und wie heisch et doch esu schön? Schuster bliv bei dingem Leisten. Esu jet möht ehr maache. „Dä, jetzt sin mer jenau esu schlau wie vorher“, säht der „Mostert“. Arbeitslück em Fastelovend? Kluten sin Arbeitslück, meinte do da Ädäpelsbaron.

Dat wor et. Kluten, Minsche, die schon immer in der Stadt die schwerste Arbeit zu verrichten hatten, am Hafen Schiffe be- und entladen, Kisten und Säcke schleppen mussten. Das war es. Kluten waren etwas besonderes. Die Garde der Arbeitslück. „Mehr maache die Klutengarde“, saht do die „Fott“. „Bravo“, reef da Weet vun der Theke her. Die Klutengarde war geboren. „Weil mer nun Arbeitslück darstellen, sollten mehr em Rusenmondachzoch als Abbruchkolonne beim „Düxer Korsett“ metmache“, reef der Birgels Willi dozweschen. Ja, dä Willi met singem Thiaterfutz em Kopp hat schon emmer jet usjefallene Ideen. Alles war klar. Die Kölner Klutengarde als Abbruchkolonne! Alles war perfekt.

Doch denkste! Jebacke Prumme. Schnell hatte sich alles herumgesprochen. Die Kluten hatten sich angemeldet beim „Festordnenden Komitee“, und auch die Prinzengarde hatte von der neuen Gruppe Wind bekommen. Prompt legte sie Widerspruch ein. Noch eine Garde em Fastelovend? Das geht nicht. Wir sind die Prinzengarde und damit basta! Entweder die oder wir! Nun sind Kluten ja schon von jeher flexible und gutmütige Menschen gewesen, warum nicht auch jetzt? Schnell wurde bei einer neuen Zusammenkunft em „Jivvel“ alles noch einmal überdacht, aus einer Garde wurde plötzlich eine Gilde. Die Kölner Klutengilde. Der Friede war wieder hergestellt und alle freuten sich.

Jetzt fing erst einmal die Arbeit an. Wat hatten die Kluten fröher för Klamotten an? Die älteren Leute wurden befragt, Bücher wurden gewälzt und Museen wurden durchstöbert. Dann war es soweit. Natürlich der hohe Klutenhut. Ein bisschen höher war der schon als die Hüte anno dazumal, doch et wor jo Fastelovend. Schwarze Hose mit Helpen und ein blau-weiß gestreiftes Hemd mit Halstuch und Schwefelsdöschen vervollständigten das Kostüm. Handwagen, Schubkarre, Schöppe un Pielhau waren die Utensilien für die Abbruchkolonne.

Doch dat wichtigste wor, en Fahn musste her. Ohne Fahn, oder Plaggen, wie esu en Fahn och liebevoll jenannt wood, wor ne Verein keine Verein. Woher nehmen un nit stehlen? Jetzt kam wieder die „Fott“ ins Spiel. Dekorateurlehrling, Arbeit im Gürzenich, bei der Restaurierung mussten doch irgendwelche Reste anfallen. Borden, Litzen, Stoff oder so was ähnliches. Willi fragte seinen Meister, ob er so etwas bekommen könnte för en Fahn, för Fastelovend. Willi bekam, was er brauchte. Nun wurde zu Hause genäht und gemalt. Ganz künstlerisch wurde das gute Stück hergestellt, Jeder der Jungen trug zum Gelingen der Fahne seinen Teil bei. En Klut, die voller Freud sing Kirch, St. Ursula, an sing Brust dröck, war das Emblem, und die Beschriftung lautete „Kölner Klutengarde von 1908“. Die Rückseite zeigte ein Stillleben. Der Plaggen ist noch heute, nach bald 100 Jahren, im Besitz der Klutengarde und wird bei allen Anlässen und Prozessionen ebenso wie beim Veedelszoch voran getragen. Es waren immer staatse, kräftige Kääls, welche die Klutenfahne trugen, und in den vergangenen Jahrzehnten wurden sie auch immer von zwei der hübschesten Frauen begleitet.

Nun durften die Kluten ja 1908 im Rosenmontagszug nur unter dem Namen Klutengilde mitwirken, also musste kurzerhand schnell eine zweite Fahne für diesen Zug hergezaubert werden. Das gelang den Kluten auch. Leider ist dieses Exemplar der Fahne nicht mehr vorhanden. Doch der erste Rosenmontagszug war für die Klutengilde von 1908 eine rundum tolle Sache und ein Ereignis för dat janze Veedel von St. Ursula.

Schnell waren die Kluten in aller Munde. So wurden auch in den darauf folgenden Jahren, immer an Fastelovend Sonndach, Zöch durch das Veedel von St. Ursula und das angrenzende Kunebätsveedel organisiert. Immer wurden neue Themen ausgeheckt und ein passendes Motto gesucht. Mal war es „Sang und Klang em Karneval“ oder die damalige „Weltausstellung“, mal war es der Ursulamarkt oder der Sport wurde auf die Schüppe genommen. An Einfällen fehlte es den Burschen aus dem Jünglingsverein nicht. Auch der Kaplan Dr. Kruchten hatte ein wohlwollendes Auge auf die Aktivitäten der neuen Klutengarde geworfen.

Längst nannte man sich wieder Klutengarde, denn die Prinzengarde hatte sich schließlich wiederberuhigt. Alle Umzüge der Klutengarde waren immer sauber in ihrer Art und ohne jede Frivolität.


Die Kölner Klutengarde von 1908 war geboren.